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Absturz der Siegertypen: Das Formtief nach dem Höhepunkt

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Finishline Roth, Frankfurt, Kona oder Irgendwo – das Ende von 226 Kilometern zwischen Spaß, Spannung und Schmerz. – Für manche Sportlerpsyche ist es der Sieg über 50 kleine Teufel oder größere „innere Schweinehunde“, für Muskeln und Nervensystem der Schlusspunkt eines acht- bis siebzehnstündigen Alarmzustands.

Der Hawaiidritte von 1993 Wolfgang Dittrich, seinerzeit ein Ausnahmekönner in den ersten beiden Triathlondisziplinen und in seinen besten Jahren auch ein solider sub-3-Stunden-Marathonläufer, gab einmal zu: „Ein gutes Rennen ist eine geistige Höchstleistung – jeder Armzug, jede Kurbelumdrehung, jeder Kniehub korrigiert und auf größtmögliche Effektivität überprüft. Dazu die renntaktischen Zwänge, fortwährende Konzentration auf Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme und in der Schlussphase der Kampf gegen Krämpfe und Schmerz.“ 

Nächtliche Humpeltour zum Kühlschrank 
Während der Organismus sofort hinter der Ziellinie seine Reparaturarbeiten startet, durchlebt die Psyche das Rennen in kleinen Ausschnitten noch tagelang, sucht die Balance zwischen Euphorie und Ernüchterung, Stolz und Selbstkritik. Die Spuren der Strapazen an Physis und Psyche sind tatsächlich so komplex, dass auch Sportwissenschaftler sie erst ganz allmählich ergründen. 

Verlässlich sind allenfalls die Blasen an den Füßen und die schmerzenden Beine, die in den ersten zwei Tagen nach dem Rennen eher weiter zu- als abnehmen. Die meisten Finisher berichten in dieser „Akutphase“ zudem von Schlafstörungen trotz extremer Müdigkeit, erhöhtem Ruhepuls, urplötzlichen Attacken von Heißhunger und Durst. 

„Muskelopfer“ sind unvermeidlich 
„Nach zwei oder drei Tagen, bei Extrembelastungen vielleicht auch nach einer Woche sind der Wasser- und Salzhaushalt wieder ausgeglichen und Zucker-, Eiweiß- und Fettstoffwechsel funktionieren wieder halbwegs normal. Dahinter laufen aber Erholungsprozesse ab, die wesentlich mehr Zeit brauchen“, berichtet der Münchner Sportmediziner Karlheinz Zeilberger von Wochen später noch erhöhten Konzentrationen des Enzyms Creatinkinase (CK), das nur bei Schäden oder Tod von Muskelzellen vermehrt ins Blut gelangt. „Erhöhungen auf mehr als das Hundertfache der Normwerte sind keine Seltenheit. Wieviel Muskelmasse bei einem Langtriathlon auf der Strecke bleibt, hängt sicher vom Trainingszustand des Sportlers und der individuellen Anforderung im Rennen ab.“ 

Regenerationswunder, aber keine Maschinen 
Oft wochenlang spüre er nach einem harten Rennen nicht die geringste Lust aufs Training, sagt Lothar Leder. Viel mehr als ausruhen, locker bewegen und auf Erholung hoffen konnte er in seinem „Rekordjahr“ 2002 zwischen dem überlegenen Sieg in Roth und dem beeindruckenden Kraftakt in Frankfurt nicht tun. Danach war aber auch der schon in seiner Jugend robuste Leder platt. Nina Kraft, Leders weibliches Pendant in Sachen Regenerationsfähigkeit, würde sich „ein derartiges Pensum niemals antun.“ Bestenfalls drei anständige Langstreckenrennen können die meisten Profis und ambitionierten Freizeitsportler in einem Jahr planen, lautet eine verbreitete Erkenntnis. 

Letztes High vor dem Absturz 
Die Erschöpfung nach langen Rennen zeigt Parallelen zum Übertrainingssyndrom (ÜTS). Viele Top-Triathleten mischen zwei Wochen nach einem harten Ironman „superkompensiert“ noch einmal einen gut besetzten Kurz- oder Mitteltriathlon auf und stürzen dann ab. Mancher Hitzkopf möchte seinen Kollegen im Heimatverein bereits wenige Tage nach der ruhmreichen Rückkehr aus Roth oder vom IRONMAN-Qualifier beweisen, warum es dort so gut geklappt hat – doch dann gehen in der Vorbereitung auf das Saisonhighlight im Oktober alle Lichter aus. Jüngere Studien der Universitätskliniken in Ulm und Freiburg haben gezeigt, warum vor dem Absturz oft noch ein letztes „High“ steht: In der Frühphase nach einer körperlichen Überbelastung – und eine solche ist ein Langstreckentriathlon unbestritten – stimulieren Steuerzentralen im Gehirn die Drüsen der so genannten Stresshormone Adrenalin und Kortison. 

Also weiter erhöhte Alarmbereitschaft, wenngleich Leistungstests in dieser Phase bereits zeigen, dass die Luft an der Spitze dünn wird. Und dann kommt die Talfahrt, die Wissenschaftler nennen es „Downregulierung“: Durch bisher nicht gänzlich erforschte Rückkopplungen zwischen der Muskulatur und dem Zentralnervensystem fallen Kortison, Sexualhormone, Wachstums- und Schilddrüsenhormone deutlich ab: Leistungsfähigkeit und Trainierbarkeit, Immunsystem und Blutbildung, Libido und Stimmungslage leiden. Sogar depressive Verstimmungen können daraus entstehen. 

Endorphin Junkies? 
Wie viel an der beliebten These von den „Endorphin-Junkies“ dran ist, wissen auch Suchtmediziner noch nicht schlüssig zu beantworten: „Nach der geistig-mentalen Schwerstarbeit und der anschließenden Überschwemmung durch Stoffwechselgifte hat das Nervensystem ohnehin allen Grund, erneute Höchstleistungen zu verweigern“, meint der Neurologe und Psychiater Patrick Bussfeld aus dem rheinischen Meerbusch. „Eindeutige Entzugssymptome vom körpereigenen Schmerzkiller und Glücksbotenstoff sind nicht bewiesen.“ Für ihn hat die übereilte Rückkehr in den gewohnten Trainingsrhythmus viel eher mit dem Selbstbild vieler Sportler zu tun, die sich über ihre sportliche Leistung jeden Tag neu definieren. „Dann ist es auch sehr gut möglich, dass die körperliche Schwäche und Zwangspause zu psychischen Krisen und Niedergeschlagenheit führt.“ Also wird schon wieder trainiert, wenn noch nichts trainierbar ist. 

Wertvolle Korrektur von außen 
Profis passiere das viel seltener, hat Sportmediziner Zeilberger beobachtet: „Die haben ihren Trainer, einen Physiotherapeuten und im Idealfall sogar noch den Mannschaftsarzt. Alle haben nur ein Ziel: den schnellen und gesunden Aufbau zu neuer Bestform.“ Wenn der Sportler Gefahr laufe, sich zu überlasten, könnten die fundierten Hinweise des Teams rechtzeitig korrigierend eingreifen. „Gefährdet sind die ambitionierten Hobbysportler, die niemand rechtzeitig warnt. Ein Physiotherapeut kann beispielsweise an der Muskelspannung ertasten, ob ein Sportler sich gut erholt. Von seiner Erfahrung wird auch der Trainer profitieren.“ 

Das Arsenal selber testen 
Leichte Bewegung könnte nach der „Reparatur der gröbsten Schäden an Muskeln, Wasser- und Salzhaushalt“ dennoch manchem Sportler gut tun, das zeigten auch die Studien der Wissenschaftler in Ulm und Freiburg, deren übertrainierte Ausdauersportler sich mit reduziertem Training wieder aus dem Tal herausarbeiteten. „Daraus sollte man aber keine Gesetze ableiten. Für andere Sportler ist es vielleicht besser, zwischen Bett, Kühlschrank und Massagebank zu pendeln, wenn sie keinen anderen Verpflichtungen nachkommen müssen“, empfiehlt Zeilberger. Ausprobieren, was am besten ist. Das gelte auch bei den unterstützenden Maßnahmen zur Regeneration. 

Viele Sportler empfinden in den ersten Tagen eine Lymphdrainage als besondere Wohltat, bei der mit sanft streichenden Bewegungen Stoffwechselschlacken abtransportiert werden. Tiefe Massagen kommen in Frage, sobald die großen Überlastungsschäden in der Muskulatur repariert sind und die Schmerzen nachlassen. „Wenn der Wasserhaushalt und die Elektrolytbalance nach drei bis sieben Tagen wieder hergestellt sind, können auch kurze Saunabäder, Kneipp-Güsse oder Strombehandlungen helfen. Da sollte jeder seine eigenen Erfahrungen machen", so Zeilberger. Nur von den neuerdings in Mode gekommenen Magnetmatten hält er nichts. Eine Beschleunigung der Regeneration sei dafür nicht bewiesen, nur arg teuer sei eine solche Ausstattung. 

Zu siebzig Prozent Kopfsache 
„Ein Langtriathlon ist zu siebzig Prozent Kopfsache, dafür muss der erholt sein“, behauptet Altstar Dittrich, der alle kleinen Teufel und großen Schweinehunde an den Lavapisten Hawaiis persönlich kennengelernt hat. Dittrich gehörte eher zur Bett-Kühlschrank-Massagebank-Fraktion, wenn es um die Erholung von den großen Rennen ging. Seine Konzentration reichte für zwei anständige und eine sehr gute Langstrecke pro Saison, ein paar Abstürze dazwischen sind auch überliefert.

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