Sebastian Kienle: Zu den Vorstart-Momenten habe ich eine Hass-Liebe

Harald Eggebrecht für tri2b.com | 24.06.2024 um 16:02
Die Triathlon-Hauptsaison ist angelaufen und mit Sebastian Kienle steht einer der Hauptdarsteller auf der Mittel- und Langdistanz der vergangenen eineinhalb Jahrzehnte nicht mehr an der Startlinie. Grund genug um mit dem Ironman Hawaii-Sieger von 2014 und zweimaligen Ironman 70.3-Weltmeister über sein erstes Jahr nach der so erfolgreichen Profikarriere zu sprechen. Kienle berichtet über seine sportlichen Fluchten in die Gravel- und Hyrox-Szene, die Zeit mit der Familie, was ihm am wenigsten und meisten aus der Zeit als Triathlonpro abgeht, sowie seine Aufgabe bei der zukünftigen Materialentwicklung seines langjährigen Ausrüsters Orca. Außerdem gibt Sebi u.a. seine Einschätzung zur Zukunft der deutschen Langdistanz-Szene ab.

tri2b.com: Wie geht es dir nach deinem Radunfall und der Verletzung an der Hand und an der Schulter?
Sebastian Kienle (S.K.): Es ist immer noch so, dass ich mich sehr glücklich fühle, weil bei dem Unfall einfach viel mehr hätte passieren können. Aktuell ist es so, dass vor allem meine linke Schulter noch einige Probleme macht. Meiner Hand geht es so weit gut, da kann ich jetzt die Schiene abnehmen. Es muss noch ein CT gemacht werden und dann sollte ich in der kommenden Woche hoffentlich das „all clear“ haben, um  auch wieder draußen Radfahren zu dürfen. Deswegen bin ich aktuell auch noch in Fuschl am See, um hier im Athletics-Performance-Center noch ein bisschen Rehab für die Schulter zumachen.

tri2b.com: Im Winter warst du in der Hyrox-Szene aktiv. Wird es eine Fortsetzung geben und würdest du Hyrox auch aktiven Triathleten als Alternativtrainings zu empfehlen?
S.K.: Ich mir ziemlich sicher, dass es da eine Fortsetzung geben wird. Ich will mich jetzt zwar schon erstmal auf die Gravel-Rennen konzentrieren. Aber das geht eben bis September, Oktober und dann werde ich auf jeden Fall wieder im Hyrox angreifen. Ich glaube es ist auch für Triathleten eine super Alternative im Winter. Es muss nicht gleich die Pro-Gewichtsklasse sein. Ich kann Hyrox gar nicht hoch genug anpreisen, das hätte ich als Triathlet vielleicht früher schon mal machen sollen. Die Wettkampfform ist auch dem Triathlon gar nicht so unähnlich, da man das Laufen mit vorermüdeten Beinen -„compromized running“ -  optimieren muss. Aber vor allen Dingen macht es einfach unheimlich viel Spaß.

tri2b.com: Wann wird man dich wieder im Race-Mode auf dem Gravelbike sehen und welche Ziele hast du noch für die Saison 2024?
S.K.: Hoffentlich gibt es jetzt in den nächsten Tagen grünes Licht. Wenn das klappt, dann würde ich eigentlich ganz gern „The Rift“ fahren (20. Juli 2024). Das ist ein 200 Kilometer langes und echt richtig fieses Gravel-Race auf Island. Ich bin jetzt allerdings Indoor seit 10 Tagen nicht mehr auf dem Rad gesessen, weil ich ganz ehrlich gesagt einen kleinen Burnout vom ständigen auf der Rolle fahren hatte. Ich bin mehr gelaufen und habe viel anderes Alternativtraining gemacht. Mal schauen, wie schnell ich dann wieder auf dem Rad in Form komme. Wenn alles gut geht, dann würde ich schon gerne noch ein paar Rennen der Gravel-Earth-Series fahren.

tri2b.com: Wie sind bei dir jetzt der Sport und die Familie aufgeteilt?
S.K.: Die Familie kommt da im Moment ganz klar an erster Stelle. Aus dem Sport habe ich vor allen Dingen eine Sache gelernt. Du kannst die Zeit nicht einfach zurückdrehen. Das gilt vor allen Dingen auch für die Zeit mit der Familie. Ich bin da unheimlich dankbar, auch, dass ich das insgesamt alles so getimt habe. Da ich eben zurzeit zumindest mal etwas mehr Möglichkeiten habe mit der Familie was zu machen. Wobei ich dazu anmerken will, es ist nicht nur Sport und Familie, sondern vor allen Dingen eben inzwischen auch Arbeit außerhalb des Sports. Es geht um die Weichenstellung für die nächsten Jahre. Und da ist doch schon einiges dazu gekommen, eben vor allen Dingen viel telefonieren und E-Mails schreiben.

tri2b.com: Was geht dir nach dem Ende der Triathlon-Profikarriere am meisten ab und was am wenigsten?
S.K: Ich glaube, das ist sogar ein und dieselbe Sache. Dass, was ich wirklich am meisten geliebt habe und gleichzeitig am meisten hasste, war eben dieser Moment vor dem Start. Wo du einfach Angst hast, wo du Vorfreude spürst, wo du nicht da sein willst, dich aber gleichzeitig absolut im hier und jetzt fühlst. Einfach eine wahnsinnige Mischung aus ganz vielen Emotionen, die einfach dafür gesorgt haben, dass du dich lebendig gefühlt hast. Es ist einfach ein ganz wilder Ritt, du hast die höchsten Höhen und tiefsten Tiefen. Das ist das, was ich auf der einen Seite unheimlich vermisse und auf der anderen Seite überhaupt nicht mehr brauche, weil es ist einfach brutal hart ist. Gerade so ein Unfall, wie ich ihn jetzt hatte, oder eine Verletzung. Wenn ich noch wirklich im Hoch meiner Profikarriere gewesen wäre, ich hätte wahrscheinlich durchgedreht. 364 Tage im Jahr arbeiten, aber nur einen Tag im Jahr ist eben Zahltag. Das ist brutal hart.

Momente zwischen höchster Freude und Angst: Sebastian Kienle in der finalen Vorstartphase beim Ironman Hawaii 2019 - © PetkoBeier.de

tri2b.com: Du bist in die Betreuung einiger talentierter Nachwuchsathleten involviert, u.a. Nils Lorenz und Jannik Schaufler. Wie siehst du deren Entwicklung?
S.K.: Aus meiner Erfahrung raus weiß ich eben, dass es keine gradlinige Entwicklung gibt. Beide haben auf ihre eigene Art unheimlich großes Potenzial. Dies zu verfolgen ist auch so ein bisschen meine Ersatzdroge. Es gibt dann eben die Ups und Downs. Ein kleines Down für mich sicher das Heimrennen beim Ironman 70.3 Kraichgau, wo beide deutlich hinter ihren Möglichkeiten geblieben sind (Schaufler Platz 11/Lorenz Platz 19).

Da ich das alles selbst schon erlebt habe, weiß ich nur zu gut, wie man sich da fühlt. Die Jungs haben jetzt den ganzen Winter sauber durchgearbeitet. Deshalb bin ich mir sicher, dass man von den beiden auf jeden Fall noch was hören wird. Ich sehe es im Training, wie gut sie performen können. Gleichzeitig bekomme ich dabei mit, wie wahnsinnig schnell sich der Triathlon-Sport weiterentwickelt hat, vor allem in den letzten 3 – 4 Jahren. Wir sehen so viele unterschiedliche Sieger, die Rennen sind kaum noch vorhersehbar. Es ist sicher aktuell die schönste und zugleich härteste Zeit als Profi im Triathlon unterwegs zu sein.

Sebastian Kienle betreut Nils Lorenz bei den finalen Startvorbereitungen beim Ironman 70.3 Kraichgau 2024 - © tri2b.com

tri2b.com: Wenn du dich an deinen Einstieg in die Profiszene erinnerst. Wie hat sich das Geschäft verändert?
S.K.: Als ich angefangen habe, gab es ja noch nicht mal Instagram (lacht). Das hat sich schon sehr stark verändert. Wenn du heute nicht auch ein absoluter Profi in Sachen Social-Media bist, dann kannst du noch so viele Rennen gewinnen. Du wirst einfach echt Schwierigkeiten haben gute Sponsoren zu finden, weil viele Verträge inzwischen genau darauf knallhart abzielen. Du musst so und so viele Posts machen und so weiter. Das erzeugt natürlich immer noch einen zusätzlichen Druck. Auf der anderen Seite eröffnet das die  Möglichkeit, sich eben ein bisschen zu diversifizieren. Auch wenn man mal verletzt ist, kann man einem Sponsor was liefern, jenseits von einfach nur Platz 1, 2 oder 3 bei irgendeinem Rennen. Es ist schon ein zweischneidiges Schwert. Ich bin auf gar keinen Fall jemand, der immer nur von den schönen alten Zeiten spricht und früher war alles besser. Das sehe ich überhaupt nicht, aber es ist definitiv anders geworden und bietet auf jeden Fall ein größeres Spektrum an Herausforderungen für die junge Athletengeneration.

tri2b.com: Auf der Mitteldistanz gab es 2023 mit Rico Bogen, Frederic Funk und Jan Stratmann ein komplett deutsches Podium bei der 70.3 WM in Lahti. Auf der Langdistanz sieht es derzeit nicht ganz so rosig aus. So sind aktuell erst drei deutsche Männer-Pros für Kona qualifiziert. Wem traust du in den kommenden Jahren Topplatzierungen in Kona und in Nizza zu?
S.K.: Da würde ich jetzt zumindest mal leicht widersprechen. Also ich finde, wir haben bei der Ironman WM in Nizza mit Patrick Lange als Zweitem jemand auf dem Podium gehabt. Deshalb würde ich jetzt nicht sagen, dass es da überhaupt nicht rosig aussieht. Es ist natürlich nicht mehr so, wie in den Jahren vor 2019. Ein rein deutsches Männer-Podium auf Hawaii ist im Moment sicher nicht abzusehen. Aber ich sehe es jetzt nicht ganz so drastisch und vor allem nicht bei den Frauen. Hier sind wir nach wie vor die beste Nation der Welt, auch wenn wir nicht die aktuelle Weltmeisterin stellen.  Wir haben mit Laura Philipp und mit Anne Haug absolute Topkandidatinnen für einen Ironman WM-Sieg. An der Spitze ist das Feld ganz klar dichter geworden und es ist entsprechend schwieriger sich da durchzusetzen. Vor 2-3 Jahren hätte ich die Frage glaube ich, noch ein bisschen pessimistischer beantwortet.

Kurzfristig sehe ich bei den Frauen ein deutlich größeres Potenzial. Langfristiger betrachtet, ich sage ich mal in 4 bis 5 Jahren, sehe ich dann bei den Männern wiederum ein größeres Potenzial. Man sieht es aktuell bei der 70 3-WM und auch generell bei den Mitteldistanzen, sowie bei der T100-Tour. Da haben wir einige starke Jungs, die irgendwann auch dafür bereit sind auf der Langdistanz vorne mitzumischen. Jetzt, im kürzeren Zeitraum von 3 - 4 Jahren, würde ich tatsächlich Frederic Funk auf der Langdistanz als heißestes deutsches Eisen im Feuer sehen. Ich bin einfach gespannt, was er in der Lage ist zu leisten. Klar muss man sehen, wie er in Hitze auf Hawaii zurechtkommt. Die rotierende Ironman-WM kommt ihm da sicher entgegen. Er hat eine super Fahrtechnik und ist insgesamt ein sehr kompletter Athlet. Meiner Meinung nach hat er vielleicht sogar auf der Langdistanz noch mehr Potenzial. Aber wie gesagt, das ist jetzt nur Theorie, die Zukunft wird es zeigen.

tri2b.com: In deiner Profi-Karriere hast du eine regelrechte Evolutionsphase in der Materialentwicklung miterlebt. Wie begehrt sind deine gemachten Erfahrungen bei deinen Ausrüstern?
S.K: Gerade mit Orca bin damals einen gewissen Glückstreffer gelandet. Der Kona-Trisuit aus 2014 war damals ein absoluter Game-Changer. Es war krass, wieviel schneller der damals war. Wir konnten die Testergebnisse selbst erst gar nicht glauben. Wir haben dann wirklich auf der Bahn noch einen extra Testtag drangehängt, weil der Anzug auch schneller war als alle anderen speziellen Zeitfahranzüge, die es zu dieser Zeit gab. Wir hatten damals den heutigen Trend mit den Strukturen an den Armen erkannt. Das gab es meines Wissens nach zuvor noch nicht.

Mit dem Orca Kona-Trisuit zum Hawaii-Sieg 2014 - © Michael Rauschendorfer

Diese Entwicklung haben wir in der Phase jetzt weitergeführt. Ich habe inzwischen mehr Zeit als zu meiner aktiven Zeit und kann mich da auch hier und da mehr einbringen. Man denkt immer, jetzt geht wirklich nix mehr, da ist alles schon entwickelt. Aber so ist es nicht. Es gibt immer noch Optimierungsmöglichkeiten. Wobei auch immer ein gewisser Zyklus zu erkennen ist. Wenn z.B. irgendwann die Regelhüter auf den Plan kommen und manche Entwicklungen einbremsen. Das dauert beim Triathlon manchmal ein bisschen länger als beim Straßenradsport. Aktuell zum Beispiel die Trinkblasen und Flaschen in den Trisuits. Das wäre was gewesen, was den Anzugsbereich sicher verändert hätte. Man muss deswegen immer ein bisschen aufpassen. Manchmal entwickelt man was und dann ändert sich das Regelwerk. Die Entwicklung geht hier sicher noch weiter. Ich fühle mich da gerade mit einem langjährigen Partner wie Orca eben sehr verbunden und ich glaube, da wird auf jeden Fall bald eine neue Entwicklungsstufe gezündet.

tri2b.com: Wann und wo wird man dich wieder als Triathlon TV-Experte sehen und hören?
S.K: Auf jeden Fall in Frankfurt und dann mit ziemlicher Sicherheit wieder in Hawaii. Immer wenn die ARD überträgt, bin ich mit an Bord. Ganz besonders freue ich mich aber vor allen Dingen, dass ich dieses Jahr auch in Roth den internationalen Livestream zusammen mit Belinda Granger kommentieren darf. Da freue ich mich total. Und mit Thorsten Radde im Hintergrund ist es echt ein absolutes Dreamteam. Die einzige Schwäche die Roth so ein bisschen in der Vergangenheit hatte, war die Übertragung. Die hat meiner Meinung nach nicht ganz mithalten können mit Frankfurt, wo das schon jahrelang praktiziert wurde. Gerade die ARD arbeitet hier äußerst professionell. Das sind auch sehr teure und aufwendige Produktionen. Aber genau hier holt Roth jetzt auf. Ich freue mich auf das Feedback der Triathlon-Fans und natürlich auf alle, die zuschauen. Ich wünsche euch eine schöne Triathlon-Saison.